Erdogans Besuch in Deutschland, der erste seit fast vier Jahren, war wegen dessen scharfer verbaler Attacken gegen Israel im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg umstritten. Der türkische Präsident hatte die Ermordung vieler Hundert israelischer Zivilisten beim Terrorangriff am 7. Oktober zwar verurteilt, die dafür verantwortliche Hamas aber später als "Befreiungsorganisation" bezeichnet. Israel warf er dagegen einen "Genozid" (Völkermord) im Gazastreifen vor und bezeichnete das Land als "Terrorstaat". Das Land stelle seine "Legitimität durch den eigenen Faschismus infrage", sagte er.
In der Pressekonferenz mit Scholz vermied Erdogan jedoch eine weitere Eskalation. Auch auf Nachfrage wiederholte er die Vorwürfe des Völkermords und des Faschismus gegen Israel nicht. Er zweifelte auch das Existenzrecht Israels nicht erneut an und verzichtete darauf, die Hamas als "Befreiungsorganisation" zu titulieren. Allerdings gab es einzelne neue Spitzen des türkischen Präsidenten. Israel warf er vor, mehr Geiseln zu halten als die mehr als 200 der Hamas im Gazastreifen. Seit Jahren seien "Geiseln und Gefangene" in Israels Händen und "bei weitem mehr". Auf was genau Erdogan sich bezog, blieb aber offen.
Der türkische Präsident kritisierte auch, Israel habe Tausende Palästinenser getötet, Krankenhäuser vernichtet, Gebetshäuser und Kirchen zerbombt. "Warum gibt es keine Reaktion?" Erdogan reklamierte für sich, frei reden zu können, und ergänzte: "Denn wir schulden Israel nichts." Sein Land sei nicht am Holocaust beteiligt gewesen. Das kann als verklausulierte Kritik verstanden werden, dass Deutschland Israel wegen seiner historischen Schuld für den Holocaust zu stark in Schutz nehme.
Scholz hatte die Verbalattacken Erdogans schon vorher als "absurd" zurückgewiesen. Auch er war darauf bedacht, kein weiteres Öl ins Feuer zu gießen. Beide Politiker stimmten immerhin darin überein, dass kurzfristig humanitäre Feuerpausen zur Versorgung der Zivilbevölkerung und langfristig eine Zwei-Staaten-Lösung mit einem friedlichen Nebeneinander von Israelis und Palästinensern nötig seien.
"Dass wir zu dem Konflikt sehr unterschiedliche Sichtweisen haben, ist ja kein Geheimnis", sagte Scholz in der Pressekonferenz, an die sich ein gemeinsames Abendessen anschloss. Gerade deshalb seien die Gespräche wichtig. "Wer Deutschland kennt, der weiß: Unsere Solidarität mit Israel steht außer Frage. Israel hat das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich zu verteidigen." Zugleich betonte Scholz: "Auch das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza bedrückt uns." Deutschland gehöre bereits seit Jahrzehnten zu den größten Hilfsgebern für die palästinensische Bevölkerung.
Erdogan verlangte eine humanitäre Waffenpause im Gaza-Krieg. Wenn Deutschland und die Türkei gemeinsam einen solchen Waffenstillstand erreichen könnten, habe man die Chance, die Region aus diesem "Feuerring" zu retten, sagte er. "Die Priorität für uns alle liegt in der Gewährleistung eines Waffenstillstands und der uneingeschränkten Bereitstellung humanitärer Hilfe." Jeder müsse sich für einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten einsetzen. "Wie sehr kann Deutschland beitragen? Wie können wir gemeinsam diese Schritte setzen?"
Kurz vor Erdogans Ankunft drängte die Türkei auf ein deutsches Ja zum Kauf von Eurofighter-Jets. Verteidigungsminister Yasar Güler hatte am Donnerstag gesagt, die Türkei beabsichtige 40 der Kampfflugzeuge zu kaufen und habe bereits die Zustimmung von Großbritannien und Spanien. Nun wolle man Deutschland überzeugen. Scholz äußerte sich in der Pressekonferenz nicht dazu, ob Deutschland dem Export zustimmen werde. Ein Ja zu dem Rüstungsexport gilt als unwahrscheinlich. Die Bundesregierung genehmigt schon seit Jahren nur noch wenig Rüstungsgüter an den Nato-Partner Türkei.
Es wurde erwartet, dass dieses Thema auch beim Abendessen auf den Tisch kommen würde. In der gemeinsamen Pressekonferenz sagte Erdogan, es gebe viele Länder, die Kampfflugzeuge herstellten, nicht nur Deutschland. "Das kann man natürlich auch von anderen Ländern besorgen."
Scholz ging noch mit einem anderen dringenden Wunsch in das Gespräch mit Erdogan: Das Migrationsabkommen zwischen der EU und der Türkei wiederzubeleben, dass den Zuzug von Flüchtlingen nach Europa eindämmen soll. "Uns eint das Ziel, irreguläre Migration zu begrenzen", sagte der Kanzler. Das Abkommen von 2016 sei eine gute Vereinbarung gewesen. "Ich setze mich in der Europäischen Union dafür ein, dass diese Vereinbarung fortgesetzt wird. Sie ist zu unser beiderseitigem Nutzen." Auch über die Frage der Rückführung von Migranten werde man sprechen müssen.
Scholz kündigte an, er wolle mit Erdogan auch darüber sprechen, wie konkrete Fortschritte bei den Beziehungen der Türkei zur Europäischen Union zu erreichen seien. "In den vergangenen Jahren sind wir bei den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei hinter unseren Möglichkeiten, hinter unseren Potenzialen zurückgeblieben." Erdogan betonte, sein Land wünsche sich innigst, dass der EU-Beitrittsprozess weitergehe. Dabei sei die Unterstützung Deutschlands sehr wichtig. "Seit 52 Jahren wartet die Türkei an der Tür der Europäischen Union." Das Gespräch der beiden dauerte dann knapp zwei Stunden.
Der türkische Präsident war nach seinem Eintreffen in Berlin zunächst von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue empfangen worden. Auch dieser machte nach Angaben des Bundespräsidialamts "mit Nachdruck" die deutsche Position im Nahost-Konflikt deutlich. "Der Bundespräsident hat die Einstufung des Überfalls der Hamas auf Israel als Terrorangriff und der Hamas als Terrororganisation unterstrichen. Er hat das Existenzrecht Israels sowie sein Recht auf Selbstverteidigung herausgehoben", hieß es.